Ist Bildung ohne Zwang möglich?
Es ist erstaunlich. die ganze Republik diskutiert über einen „bildungskritischen“ Tweet, welcher mehr der ganz normalen (seit Jahren vermutlich gleich gebliebenen) Sorge entspringt, man wäre nach der Schule nicht für das Abenteuer „Leben“ gerüstet und plötzlich zweifeln alle an der Institution Schule.
Auch wenn es nicht soviel Aufsehen erregt hat (vermutlich weil es mehr als 140 Zeichen waren)und von dem Film „Alphabet“ inspiriert war, fand ich das Essay mit dem meine Tochter in der neunten Klassen von ihrem Philosophie-Lehrer zu hören bekam: „Wow, das hat mich ganz schön zum denken angeregt.“ etwas beeindruckender, aber als Vater soll man ja auch stolzer auf seine Kinder. Auch wenn ich bezweifle, dass ihr Ansatz bei der nächsten Bildungsreform in Betracht kommt, vor allem weil die meisten Eltern diesen Anforderungen kaum genügen würden. und die Industrie Zeter und Mordio schreien würde, wenn man ihnen die Zeugnisse als Einstellungskriterien nehmen würde: Vielleicht findet es ja doch noch jemand inspirierend:
Ist Bildung ohne Zwang möglich?
Eine Langzeitstudie an 1.500 Kindern ergab, dass die Fähigkeit zum nicht linearen Denken (einer der Grundvoraussetzung zur Kreativität) im Laufe einer Schulkarriere rapide abnimmt. Während im Alter von 3-5 Jahren ca. 98% das Potential zur Genialität aufwiesen, waren es im Alter von 6-8 nur noch 32% und im Alter von 13-15 nur noch 10%. Eine Kontrollstudie bei 200.000 Erwachsenen zeigte, dass nur noch 2% der Erwachsenen über 25 Jahren auf genialem Niveau mehrdimensional und nicht linear denken können. Doch „Kreativität ist essenziell für die nächste Phase unserer menschlichen Gesellschaft“.[i]
Eine Schule ohne Zwang könnte möglicherweise helfen, diese Potentiale zu erhalten, weshalb eine eingehende Betrachtung der Frage „Ist Schule ohne Zwang möglich“ durchaus unsere Aufmerksamkeit verdient. Können wir den Jugendlichen von heute eine schulische Bildung ermöglichen, ohne ihnen das Wissen aufzuzwingen?
Zwang zu definieren ist schwerer als es vielleicht erscheinen mag, da man die ganze Bandbreite umfassen muss. Wenn man auf der Duden-Website[ii] schaut, gibt es dort schon sieben verschieden Arten Zwang zu definieren. Die Definitionen „Von gesellschaftlichen Normen ausgeübter Druck auf menschliches Verhalten“ und „Einwirkung von außen auf jemanden unter Anwendung oder Androhung von Gewalt“, finde ich am passendsten. Wobei man „Gewalt“ in „Strafe“ ändern sollte. Zusammengefasst würde diese Definition folgendermaßen lauten: „Die Einwirkung von außen, die das menschliche Verhalten durch den Druck der gesellschaftlichen Norm, Androhung und Anwendung von Strafen formt und ändert“.
Zuerst werde ich fragen, welche Zwänge es gibt und wodurch sie ausgeübt werden.
Zweitens werde ich die so genannte Nena-Schule betrachten, die damit wirbt, ohne Zwang zu unterrichten und sehen ob sie diesem Anspruch gerecht wird.
Drittens werde ich die Frage stellen, in welcher Hinsicht wir ein Schulsystem ohne Zwänge erschaffen können und inwiefern sich die Gesellschaft diesem Schulsystem anpassen müsste.
1.
Die größte Machtquelle der Lehrer sind die Noten. Von überall bekommt man die Angst eingetrichtert, „wenn ihr euren Schulabschluss nicht schafft, endet ihr als HartzIV-Empfänger“. Dies ist wohl die eindeutigste Form von Manipulation und Zwang. (Tom Waits bringt das in „König der Fischer“ treffend auf den Punkt[iii].) Die Bewertung mit Noten gepaart mit dieser Zukunftsangst zwingen die Kinder zur Anpassung an gewünschte Denkmuster und zum Lernen. Weigern sie sich dem Lehrplan zu folgen, droht die Bildungs- und damit die Zukunftsverweigerung durch den Schulverweis. Der Schüler wird durch diese Angst gezwungen, Dinge zu lernen, die er oft im späteren Berufsleben nicht braucht.
2.
Die Nena-Schule wird als Schule in Selbstverwaltung durch die Schüler „geführt“. In Komitees entscheiden die Schüler über Einstellungen und Entlassungen von Lehrern, die Verwendung vorhandener Gelder und die Lösung anderer Probleme. Die Schüler können freiwillig an diesen Komitees teilnehmen, zwei Lehrer begleiten jedes Komitee. Es gibt keinen Stundenplan. Noten und Zeugnisse gibt es nur, wenn Schüler es wollen.
Sie haben vier Hauptregeln:
– Pro Woche 35 Stunden Anwesenheitspflicht.
– Täglich ist ein halb stündiger Ausflug zu dritt zum Supermarkt gestattet.
– Jeder ist einmal pro Woche mit dem Putzen dran.
– Wenn jemand „Stopp!“ sagt, darf er nicht länger geärgert werden.
Regeländerungen werden bei der Schulversammlung besprochen. Die Lehrer geben an jedem Tag Kurse. Die Schüler können freiwillig daran teilnehmen. Der Lehrer kann Tests ansetzten. Prüfungen, wie Real-und Hauptschulabschluss, schreiben die Kinder wenn sie sich bereit fühlen. Eine Lernerhebungsprüfung findet einmal im Jahr statt.
Bei Regelbruch drohen Strafen wie Kloputzen, Ausgangsverbot oder eine Schulsonderverhandlung (wenn eine SSV dreimal für eine Person einberufen wird, wird diese Person suspendiert).
Die Nena-Schule ist schon ein gutes Beispiel, wie Schule ohne Zwang aussehen könnte. Sie arbeitet weitestgehend ohne Angst und setzt auf die natürliche Neugier der Kinder. Kinder wollen unabhängig sein. Sie wollen selbstständig neue Geschichten kennenlernen. Sie wollen selber einkaufen gehen. In der heutigen Zeit ist es außerdem wichtig, sich per Facebook oder SMS verständigen zu können. Kinder lernen also aus eigener Motivation lesen, rechnen und schreiben. Der natürliche Drang die Welt zu entdecken und zu verstehen, ist tief in den Kindern verankert. Wenn sie dies ohne Angst tun, haben sie auch im späteren Leben mehr Lust, ihr Wissen zu erweitern, denn das positive Gefühl beim Lernen wird im Gehirn gespeichert. Die Gefühle und die Situation im normalen Schulsystem sind oft Angst, Stress und Lustlosigkeit.
Doch als zwangfrei würde ich die Schule trotzdem noch nicht bezeichnen. Die Schüler dürfen dort kein Abitur schreiben. Wollen Sie studieren sind sie gezwungen die Schule zu wechseln.
Dass die Schüler bereits in die Rolle von Erwachsenen gesteckt und mit Problemen konfrontiert werden, die eigentlich in den Aufgabenbereich der Schulleitung fallen, mag man als nicht kindgerecht bezeichnen. Sie leiten immerhin eine ganze Schule. Aber sie tun dies freiwillig und auf der anderen Seite lernen die Kinder so auch mit Problemen umzugehen und sie zum Besten der Mehrheit zu lösen. Sie müssen selbstständig ihr Arbeitspensum definieren und erfüllen und lernen so Zeitmanagement. Die einzigen Regeln, die es dort gibt, werden auferlegt, damit die Schüler lernen, dass asoziales Verhalten Konsequenzen mit sich trägt, was gerade nach der anfänglichen Kritik über anarchistische Zustände sicherlich notwendig war.[iv]
Das größte Problem für diese Schulform ist, dass die Gesellschaft nicht auf sie ausgelegt ist. Die Gesellschaft ist auf Wirtschaftlichkeit und Produktivität ausgelegt. Die Kinder sollen ausgebildet werden, und das Lernergebnis soll einfach vergleichbar sein. Der spätere Arbeitgeber soll einen einfachen, vermeintlich objektiven Maßstab bekommen. Eine 1 in Mathe ist „sehr gut“. Sie sagt allerdings nichts darüber aus, ob der Schüler nur effektiv den vom Lehrer gewünschten Lösungsweg gebüffelt hat oder ob er begeistert von diesem Thema war. Auch für die Lehrer ist die gegenwärtige Schulform effektiver. Es ist einfacher Wissen zu reproduzieren, als den Schülern als Inspiration zur Begeisterung für freie Themen zur Verfügung zu stehen. Und es ist schwerer Strömungen und Interessen der Schüler wahrzunehmen und aufzubauen, als einem Lehrplan zu folgen. Wie soll ein Lehrer bei fünfundzwanzig Schülern im Detail ihre kreativen Qualitäten bewerten? Da ist es einfacher zu überprüfen, ob der Schüler den gewünschten Lösungsweg korrekt angewendet hat. Solange heutige Zeugnisse, auf Angst aufbauen, werden Schüler zu stromlinienförmigen Lernen angetrieben.
Auch die Eltern würden anders gefordert. Sie müssten lernen, von der Angst abzulassen, dass ihre Kinder keine Arbeit finden, nur weil sie nicht den Maßstab des Notendurchschnittes haben. Sie wären gefordert, die Begabungen ihres Kindes zu erkennen und zu fördern. Erziehung und Bildung einfach bei der Schule abzuladen wird dann nicht reichen. Doch die Kreativität der Kinder würde davon profitieren.
Die Umstellung wäre sicherlich nicht einfach. Arbeitgeber müssten Charakter und Neigungsbeschreibungen ihres Bewerbers anstelle des Zeugnisses lesen. Doch wer glaubt, dass Arbeitgeber so nicht entscheiden können, sollte einen Blick auf André Stern werfen.[v] Dieser hat nie eine Schule besucht und ist als Gitarrenbauermeister erfolgreich. Seine Lehrstelle als Gitarrenbauer erhielt er damals aufgrund der Begeisterung für das Baumaterial. Heute hält er Vorträge an Universitäten über Freipädagogik. Er ist nicht weniger gebildet, als „normale“ Erwachsene, vielleicht sogar mehr, da er aus Motivation lernte und nicht nach einer Prüfung das erlernte aus dem Gehirn strich.
3.
Ich denke, dass man die Mühe der Umstellung in Kauf nehmen sollte, da die Depressionen bei Jugendlichen durch Überforderung und Versagensangst zurückgehen würden. Die Schüler würden in der Arbeitswelt effektiver sein, da sie wissen was es heißt, mit Motivation zu arbeiten.
Es ist gut möglich, dass man Schulen nie ganz von Zwang befreien kann. Doch die Bildung und den Wissenserwerb kann man ganz eindeutig vom Zwang befreien. Man kann die Schüler unterstützen, mit Lust und Motivation zu lernen. Das Einzige, was wir in der Schule mit Sicherheit fürs Leben lernen, ist die Fähigkeit zu lernen.
[i] Film „Alphabet“ 2013, Studie von Sir Ken Robinson (http://www.aargauerzeitung.ch/leben/leben/wie-die-schule-unsere-kinder-krank-macht-127647483) ebenso Zitat von Thomas Sattelberger Personalchef von Telekom AG
[ii] http://www.duden.de/rechtschreibung/Zwang
[iii] Er zahlt, damit er mich nicht ansehen muss…. der Kerl geht jeden Tag zur Arbeit, acht Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. seine Nüsse so fest in einen Schraubstock, dass er die Grundgefüge seiner Existenz in Frage stellt. Dann, eines Tages, kurz vor Feierabend, ruft sein Boss ihn ins Büro und sagt: „Hey Bob, warum kommst du nicht mal her und küss mir den Arsch, ja?“ Nun sagt er, „zur Hölle mit ihm. Ist mir egal, was passiert, ich möchte nur, den Ausdruck in seinem Gesicht sehen, wenn ich ihm diese Schere in den Arm jage. [seufzt] Dann denkt er an mich und sagt: „Moment. ich habe meine beiden Arme, ich habe meine beiden Beine. Zumindest bettel ich nicht fürs Überleben. Und Todsicher legt Bob, die Schere weg und spitzt die Lippen.“
[iv] Hamburger Abendblatt 11.09.12 http://www.abendblatt.de/hamburg/article2397169/Sofortige-Schliessung-der-Schule-von-Nena-gefordert.html
[v] http://www.andrestern.com/de/